Die Tektonik der Gefühle

Zusammenfassung

Ist es möglich —von einem Moment auf den anderen— von der Liebe zum Haß überzugehen?
La Tectonique des Sentiments handelt von den Verheerungen, die Diane auslöst, als sie meint, Richard liebe sie nicht mehr...

Das Leben aller Figuren wird gewaltige Erschütterungen erfahren, ins Wanken geraten; denn, wenn ein Gefühl sich verschiebt, dann ist das genau so, wie wenn sich die Kontinentalplatten verschieben: die Folgen sind unabsehbar…

Je stärker der Stolz ist, desto stärker ist auch das Beben.Eine grausame, doch letztlich zärtliche Komödie, die die Widersprüche, die wir in uns tragen, unter die Lupe nimmt und unsere Liebesbeziehungen einer gründlichen Analyse unterzieht.  

Anmerkungen

« Ist es möglich in Sekundenschnelle von der Liebe zum Haß überzugehen? »

Ist es möglich in Sekundenschnelle von der Liebe zum Haß überzugehen? Wenn die Antwort ja lautet, dann hat es sich auch nicht um Liebe gehandelt…

La tectonique des sentiments ist eine augenzwinkernde Anspielung auf die Episode mit Madame de la Pommeraye in Jacques der Fatalist, auf die Geschichte einer Geliebten, die im Stich gelassen wurde...

Anfangs wollte ich diese Figur von Diderot für die Bühne adaptieren, diese sehr starke Frau, der eine gewisse Ruchlosigkeit à la Laclos anhaftet. Letzten Endes ist daraus, glaube ich, ein ganz eigenständiges Stück geworden, habe ich doch die Figur auf meine Weise bearbeitet.

Der Freigeist  war bereits eine Hommage an Diderot. Kommen Sie denn mit Diderot nie zu einem Ende?

Nie! Er gibt den Anstoß zu meinem Schreiben, er ist sozusagen mein Gründungsautor. Er lehrt einem, was Freiheit ist. Ich befinde mich in der paradoxen Lage, philosophisch gesehen Pascal und literarisch gesehen Diderot nahezustehen. Welche Spannung sich daraus ergibt!

Ist Ihr Theater nicht für die heutige Zeit, das, was das Theater von Marivaux für das 18. Jahrhundert war?

Marivaux galt als ein leichter Unterhaltungsautor, obwohl er eigentlich —unter der scherzhaften Oberfläche— ein Beobachter unserer Sitten war, vor dem man sich in Acht nehmen mußte. Ihre Figuren stellen die Eleganz von Menschen voller Esprit zur Schau, doch stehen sie wie die Figuren bei Marivaux am Rande der Tragödie. Sie sind weniger elegant als schamhaft: sie brauchen so lange, um zueinander zu finden, und vor allem, um sich auszudrücken! Eigentlich würden sie gerne anders sein, als sie sind. Das Stück bietet eine Art Grunddramaturgie: die Männer und die Frauen in diesem Stück lernen im Verlauf von Prüfungen, die sie zu bestehen haben, aufeinander zuzugehen, sich gegenseitig anzunehmen, ja sie lernen sogar, bessere Menschen zu werden.

Mit Ihrem Theater nehmen sie die große Tradition jenes französischen Theaters wieder auf, das das Wort, den Esprit, das Vergnügen in den Mittelpunkt stellt.

Das ist vollkommen richtig. Molière und Racine beschrieben das Theater als „die Kunst zu gefallen“; ich bekenne mich voll und ganz zu dieser Ansicht. Wenn der Begriff „gefallen“ nicht in einem abfälligen Sinn gebraucht wird, dann bedeutet er: interessieren, begeistern, auf eine Reise mitnehmen… Meine Absicht ist es, eine oft ernste Geschichte zu erzählen, die Menschen aus dem Gleichgewicht zu bringen, sie zum Nachdenken anzuregen, ohne dabei die beiden Aspekte, den Humor und das Vergnügen, aus dem Auge zu verlieren.

Sie haben eine durch und durch ambivalente Einstellung dem Theater der Stille gegenüber, das durch seinen Minimalismus gekennzeichnet ist, gegenüber dieser düsteren Melancholie der deutschen Dramaturgie, die sehr in Mode war…

Sicherlich lieben mich die Deutschen deshalb so! Ich werde in Deutschland wahnsinnig oft gespielt, mehr als hundert Aufführungen hat es bisher gegeben, ob in der Schaubühne in Berlin oder in Privattheatern. Doch es ist zu verstehen, daß die Deutschen dem Wort gegenüber mißtrauisch sind: Dank Hitler ist ihr Bedarf an Sprachmanipulation gedeckt! Meine Freude am Text geht nicht in diese Richtung: in meinem Schreiben drückt sich die Liebe zum Paradox aus, es will die Widersprüchlichkeiten, die wir in uns tragen, ausleuchten, es kommt leichtfüßig daher.

Die Zuschauer werden entdecken, daß Diane das in den Schmutz zieht, was am Heiligsten ist, den Bezug zum Anderen, die Aufmerksamkeit und Achtung gegenüber dem Anderen und sie ist die erste, die darunter leidet.

Sie ist eine moderne Frau, kämpft sich durch in einer Männerwelt. Zwischen ihr -einer Kindfrau- und ihrer Mutter besteht ein himmelweiter Unterschied ; doch hat sie Schwierigkeiten, eine feste Liebesbeziehung aufzubauen, zu akzeptieren, daß man sich dafür auch ein Stück weit gehen lassen muß. Wir alle kennen solche unabhängigen Frauen, die sich an mehrern Fronten haben schlagen müssen, die es im Beruf zu etwas gebracht haben, aber in ihrer Beziehung gescheitert sind.

Einmal mehr stellen Sie die Leidenschaft dem Engagement für den Nächsten, die Liebe der Macht gegenüber. Wollen sie damit zeigen, daß das intime Leben eines Paares auf einer Täuschung beruht, vergiftet ist von den Praktiken… des Marketing, der Leistung, der Effizienz?

Heutzutage wird alles „gemanaget“! Das ist das große Zauberwort! Die große Illusion! Man will alles im Griff haben, darauf beruht die Täuschung... Doch in der Liebe muß man mit der Unbestimmtheit, der Ungewißheit leben. Die Liebe kann keine pragmatische Absprache sein, man setzt, reichlich gewagt, auf die Lebendigkeit eines Mysteriums. Wodurch werden wir denn verführt? Durch die anmaßende Freiheit, die sich jemand herausnimmt, indem er sich uns nähert, uns vielleicht auch wieder verläßt, uns verrät... Lieben ist zwangsläufig unbequem.

Im Grunde schreiben Sie ein Theater der Grausamkeit! Zugleich verwahren Sie sich gegen diese Grausamkeit. Ihre Werke stehen im Zeichen der Befreiung, der Erlösung, jene zutiefst menschliche Erlösung.

Ja, ich lasse mich von einem tiefen Optimismus leiten, einem humanistischen Glauben. Wenn ich über das schreibe, was nicht so ist, wie es ein sollte, wenn ich über das schreibe, was sticht, was schmerzhaft ist, dann tue ich das auch, um zu zeigen, daß man sich damit abfinden muß, in einer komplexen Wirklichkeit zu leben. Man darf die Dinge niemals vereinfachen! Niemals verkürzt darstellen! Wer vorgibt, er könnte die Schwierigkeiten und die Widersprüche des Daseins einfach abschaffen, ist ein Spiegelfechter.

Rezensionen

La Libre Belgique - « Die Geologie der Liebe von Eric-Emmanuel Schmitt »

03/09/05

Ein Abglanz des Schönen im Strudel der Leidenschaft und ihrer Abirrungen

Es ist kein Zufall, daß im Programm zur Vorstellung von La tectonique des sentiments von ßric-Emmanuel Schmitt im Theater Le Public ein Auszug aus Andromache von Racine abgedruckt ist. 'Soll er doch sterben, hat er's doch kommen sehn,/ Und zwang er mich doch zuletzt, es zu wolln': Der begabteste und zurzeit meistgelesene französische Theaterautor beschäftigt sich in seinem neuesten Stück mit der Liebesleidenschaft, wenn sie ihren Höhepunkt erreicht hat, mit jenem Grenzpunkt also, wo die Liebesleidenschaft in Haß und Rachsucht umschlägt.

Interpretiert von einer Patricia Ide, zu der die tragischen Töne entschieden gut passen, ist Diane in der Tat eine Andromache von heute. Der Autor von Der Freigeist 'der immer wieder betont, er sei vom Denken Pascals und vom Stil Diderots beeinflußt' hat sich mit diesem Stück auf ein künstlerisches Gebiet begeben, das irgendwo zwischen Marivaux und Laclos anzusiedeln wäre. Jener ist zu nennen wegen der Genauigkeit, die die Beschreibung der Liebesgefühle kennzeichnet, dieser wegen der ruchlosen Manipulation, der sie anheimfallen können.

Der Titel verweist auf die Bewegungen der Erdkruste unter dem Druck des Magmas und steht für den wissenschaftlichen Aspekt der Beobachtung, auf den man sich hier gefaßt machen kann. Der Bühnenraum ist der Experimentierkasten, in den der Autor seine Geschöpfe hineinwirft, um beobachten zu können, wie sie sich verhalten werden. Nach außen hin scheinbar beständig, wandeln sich die Emotionen und sprudeln schließlich empor, wie die heiße Lava aus dem Vulkan.

[...] Das Können der Schauspieler wird der Tiefgründigkeit eines Textes gerecht, wo der Sinn für schlagfertige Dialoge, das verbale Feuerwerk und jener Kunstgriff, den Theatercoup wiederholt einzusetzen [...] gemeistert wurden, dazu eingesetzt wurden, einen wahren Eindruck von den Regungen des menschlichen Herzens zu vermitteln.

Der hauptsächliche Eindruck,  den das Stück vermittelt, ist eine Art heiter-schönes Gefühl angesichts des Mysteriums des Liebesdrangs und seiner Wandlungen. Als ob man ruhig den Ausbruch eines Vulkans in Zeitlupe mitansähe. Und natürlich sieht man auch sich selbst, hinterfragt man sich auch selbst, während man das Stück sieht. Man verläßt den Theatersaal mit dem Gefühl einer wiedergefundenen Fülle, steht wieder mit sich selbst im Einklang und mit denen, die man liebt.

Das Premierenpublikum hat sich darin nicht getäuscht, es lauschte ein drei Viertel Stunden, eine andächtige Stille beobachtend, und ein großer Teil erhob sich am Ende von den Plätzen, um den Schauspielern zu applaudieren.

Philip Tirard

Le Soir - « Ein neuer Schmitt, das ist wie ein neuer Harry Potter »

Eric-Emmanuel Schmitt nähert sich der Tragödie - 03/09/05

Ein neuer Schmitt, das ist wie ein neuer Harry Potter: der Erfolg ist vorprogrammiert. [...] Am Donnerstag abend war eine enorme Erwartungshaltung zu spüren. Am Kartenschalter bekam man zu hören, daß sämtliche Vorstellungen bis auf weiteres ausverkauft seien.

[...] Schauen wir uns das Stück einmal genauer an. Das Stück und die Fragen, die es aufwirft. Das Bedürfnis nach Liebe, das uns beseelt, kann es große Erschütterungen hervorbringen? Mit La Tectonique des sentiments beantwortet Éric-Emmanuel Schmitt diese Frage mit einem klaren Ja. Die Schläge unseres Herzens können wie die Flügelschläge eines Schmetterlings Erschütterungen auslösen, die unsere Kräfte übersteigen.

Damit [...] nähert sich Schmitt auf seine Weise einem mächtigen Genre, das aus einer fernen Vergangenheit auf uns überkommen ist: der Tragödie, jener Form des Theaterstücks, die will, daß der Zuschauer auf Anhieb das düstere Ende des Dramas kennt und während der ganzen Dauer der Aufführung darunter leidet.

Laurent Ancion

Le Figaro - « Kleines Eheverbrechen »

15/01/2008

Tektonik der Gefühle von Éric-Emmanuel Schmitt

Die Verantwortlichen von Albin Michel hatten die gute Idee, den Text des Stücks Tektonik der Gefühle als Buch zu veröffentlichen. Er liest sich wie ein Roman: Die Dialoge sind bissig, subtil und geistreich; Quiproquos und unvorhergesehene Ereignisse sind schön auf die Handlung verteilt; die Hauptfiguren haben auch ohne nähere Beschreibung Tiefe; die Nebenfiguren (wie Frau Pommeray, die Schwiegermutter, oder Elina, die junge Prostituierte und Dichterin) verkommen nicht zu bloßen Randgestalten.

Éric-Emmanuel Schmitt gibt an, er habe sich bei der Abfassung des Stücks von Diderot inspirieren lassen. Freilich finden sich vor allem Einflüsse von Marivaux in Tektonik der Gefühle, der Geschichte einer Frau, die in die eigenhändig aufgestellte Liebesfalle tappt. Auf brillante Weise wird die Kunst der Lüge und der Maskerade eingesetzt. Der Autor lotet die psychologische Vielschichtigkeit der Menschen aus, spielt mir ihren Schwächen, vor allem mit der Eigenliebe. So zweifelt Diane, eine starke Persönlichkeit, von Beruf Politikerin, an den Gefühlen Richards, ihres Lebensgefährten, obwohl dieser unsterblich in sie verliebt ist. Um ihn auf die Probe zu stellen, gibt sie vor, ihn überhaupt nicht mehr zu lieben, ja wird sogar so weit gehen, ihn in die Arme einer jüngeren Frau zu treiben. Im Innersten getroffen, erklärt ihr Richard, daß es besser sei sich zu trennen. Damit ist der menschlichen Komödie die Bühne bereitet. In der Manier der besten Schauspieldichter läßt Schmitt, der für sein Gesamtwerk den Großen Preis des Theaters von der Académie française verliehen bekam, Aphorismen in seine Dialoge einfließen: „Verliebt sein und zugleich Vertrauen haben ist ein Ding der Unmöglichkeit" oder „Der Mensch ist so wunderbar beschaffen, daß er seine Fehler auf andere abzuwälzen vermag". Die Tektonik befaßt sich aber auch mit den geologischen Deformationen, den Verschiebungen ganzer Erdplatten. In diesem Text zeigt der Schriftsteller, daß unangebrachter Stolz einen richtiggehenden Liebestsunami auslösen kann.

Mohammed Aïssaoui

Le Figaro - « Verirrungen des Herzens und des Verstandes »

Die Tektonik der Gefühle von Éric-Emmanuel Schmitt im Théâtre Marigny

Der Schriftsteller von Enigma weiß, was er Diderot schuldig ist: Diderot inspirierte ihn zu dieser grausamen Geschichte, so wie er auch 1945 Robert Bresson zu dem Film Les dames du bois de Boulogne inspirierte, für den Jean Cocteau damals die Dialoge schrieb. Nun, die Geschichte von Madame de La Pommeraye, die in Jacques Le Fatalist erzählt wird, ist deshalb so faszinierend, weil sie sehr schön die jeder Liebesbeziehung innewohnende Ambivalenz thematisiert und zeigt, wie eine leidenschaftliche Liebe in regelrechte Zerstörungswut umschlagen kann.

Éric-Emmanuel Schmitt legt die zeitgenössische Handlung nach Paris. An vermeintlich raffinierten Racheplänen schmiedend, wird sich die Heldin das Genick brechen. Die unabhängige, schöne Frau lebt mit ihrer Mutter zusammen und nimmt sich zum Zeitpunkt der Handlung von Berufs wegen dem Schicksal der Prostituierten an. Genau dieselbe Frau, die für das Recht der Schwachen eintritt, wird sich zwei wehrlose Frauen buchstäblich kaufen... und die Liebe, zu der sie nicht fähig ist, wird die übrigen Protagonisten mit sich reißen, sie selbst am Ende zugrunde gehen.

Um uns diese hintergründige Geschichte zu erzählen nimmt sich Éric-Emmanuel Schmitt, wie er es gern tut, Zeit und feilt köstliche Szenen aus, sich dabei insbesondere auf die Mama stützend, hervorragend gespielt von der wundervollen Annick Alane. Es ist des Autors erste Inszenierung, in der er zahlreiche traumhafte Elemente einsetzt oder solche von der Musikkomödie, Elemente, die auch in dem unter seiner Regie gedrehten Film vorkommen. Gewiß will er uns damit signalisieren, daß es sich - auch wenn die Geschichte düster ist - um Fiktion handelt... Seine Figuren sind nicht von einem Soziologen gezeichnet, sondern von einem Schriftsteller.

Seinen Schauspielern läßt Schmitt großen Freiraum.

Die Spielfreude ist dem voller Esprit agierenden Julien Alluguette in zahlreichen Auftritten anzusehen. Marie Vincent ist umwerfend in zwei sehr unterschiedlichen Registern. Die junge Sara Giraudeau ist mit ihrem Zauberblick, ihrer tänzerischen Grazie und fruchtig-frischen Stimme wie ein Sonnenstrahl, der eine düstere Welt erleuchtet. Tcheky Karyo bringt die Ernsthaftigkeit eines schweigsamen, schmerzhaften Zaubers ein.

Clémentine Célarié schließlich verkörpert Diane, eine zu kopfgesteuerte Jägerin, als daß sie sich noch etwas anderem verschreiben könnte als ihren ungeheuerlichen Machenschaften. Großartig, wie sie ihre Figur noch bis in die kleinste Nuance ausleuchtet, und somit der Komplexität der Figur und des Stücks vollauf gerecht wird.

Armelle Héliot

Veröffentlichungen

  • Erschienen auf Französisch bei Albin Michel und bei A vue d'oeil
  • Erschienen auf Polnisch bei Wyndawnictwo Znak

Aufführungen

  • Belgien, Brüssel, OKtober-November 05 
    Inszeniert von Michel Kacenelenbogen.
    Mit: Rosalia Cuevas, Patricia Ide, Françoise Oriane und Philippe Résimont.
  • Estonie
    Pärnu-Endla Teatr, Oct 2007
  • France
    Théatre Marigny, Jan 2008
  • Polen
    Zielona Gòra Theater, Dezember 2008, Januar 2009