Zusammenfassung

Wen liebt man, wenn man liebt? Kann man jemals wissen, wer das geliebte Wesen ist? Geteilte Liebe ist das nicht nur ein glückliches Mißverständnis?

Vor dem Hintergrund dieser ewigen Geheimnisse des Liebesgefühls treffen zwei Männer aufeinander: Abel Znorko, ein Literaturnobelpreisträger, der fern von Menschen auf einer abgelegenen Insel im Norwegischen Meer lebt – dort frönt er seiner Leidenschaft für eine Frau, mit der er einen langen Briefverkehr unterhielt –; und Erik Larsen, ein Journalist, der sich mit dem Schriftsteller unter dem Vorwand trifft, ein Interview machen zu wollen.

Doch aus welchem uneingestandenen Motiv heraus?Welches ist seine geheime Verbindung zu der Frau, die Znorko, wie er sagt, immer noch liebt? Und warum hat ein derart menschenscheuer Einzelgänger ihn überhaupt bei sich empfangen?

Das Interview wird sehr bald zu einem grausamen und undurchsichtigen Spiel um die Wahrheit; eine Abfolge von Enthüllungen, die jeder dem anderen an den Kopf wirft, während die kunstvoll dosierte Spannung immer mehr steigt.

Anmerkungen

« Die Figuren meiner Stücke sprechen... »

Die Figuren meiner Stücke sprechen viel, sagen aber selten die Wahrheit. Wäre dem nicht so, gäbe es kein Stück… Sobald meine Figuren ihre Wahrheit ausgesprochen haben, widerspricht ihnen das Leben. Wäre dem nicht so, dann wäre das Stück auch nicht von mir…Der Konflikt zwischen Idee und Wirklichkeit ist vielleicht das einzige Thema meiner Theaterstücke. Mit Gewissheiten lebt es sich zwar bequem, es ist aber notwendig, sie zu verlieren. Es ist unmöglich, sich ständig vor dem Leben in Sicherheit zu bringen, selbst wenn man sich bewußt dafür entscheidet, und auch Glaubensgewißheiten, eine Ideologie helfen da wenig: das Leben wird einen immer wieder überraschen, es widerlegt, verunsichert, fügt seine Undurchsichtigkeit hinzu, drängt einem seine Geheimnisse auf. Keine abstrakte Geisteshaltung kann gegen das Leben bestehen. Keine Philosophie kann das Leben umfassend beschreiben oder abhandeln. Mir selbst ist die Wahrheit abhanden gekommen, doch bin ich ein fröhlicher Mensch auch trotz dieses Verlusts. Ich liebe Geheimnisse. Ich habe mit Freude begriffen, daß das Leben unbegreiflich ist.Enigma ist sicher mein autobiographischstes Stück. Wie Znorko habe ich den Verrat kennengelernt, habe langezeit mit Lügen leben müssen, war zum Alleinsein verdammt, und habe dann Zuflucht im Schreiben gefunden. Wie Larsen habe ich die einfache, maßvolle Liebe kennengelernt, die Liebe, die sich im Alltag bewährt, die die Geliebte in der Krankheit begleitet bis zu ihrem Tod. Wie diese beiden habe ich die Maskeraden kennengelernt – hingenommen –, die Identitätswechsel, jene Art von Liebe, die nicht unbedingt mit den sexuellen Neigungen in Einklang steht, diese Unruhe, die Tatsache, sich selbst zu verlieren, die es einem letztlich ermöglicht, mehr als sich selbst zu finden. Ich bin oft durch die Gefühlslabyrinthe gegangen, worin sich meine beiden Helden bewegen. Doch ich werde nicht mehr darüber sagen. Die Ähnlichkeiten finden hier ihr Ende, denn die Wirklichkeit hat weniger Gehalt als die Fiktion: anders als Znorko wurde mir der Nobelpreis bisher noch nicht zuerkannt und ich lebe auf einer Insel, die ich mit anderen teilen muß...Znorko und Larsen verkörpern zwei Arten der Liebe. Znorko liebt auf Distanz, Larsen braucht die Nähe des anderen. Znorko ist Romantiker, Larsen Realist.Znorko, der sehr sinnlich, zu sinnlich veranlagt ist, hütet sich vor der Sexualität als Form der menschlichen Bindung. Er weiß, daß die Sexualität bloß ein kurzer fieberhafter Rausch, daß sie unbeständig, inkonsequent ist. Er kennt die grundsätzliche Ohnmacht der Sexualität in der Liebe. Daher wollte er seine Liebe zu Hélène vergeistigen, sie durch die Distanz und den Verzicht auf die geschlechtliche Vereinigung stärken. Er hat die Trennung von Tisch und Bett durchgesetzt und lebt seine Leidenschaft in einem täglichen Briefwechsel aus. Dieser Schriftsteller hat seine Liebesbeziehung zu Literatur gemacht. Im Gegensatz zu dem, was er zu Beginn des Interviews glauben machen will, hat er eine sehr hohe Vorstellung von der Liebe. Um dieser hohen Vorstellung willen war er sogar dazu bereit, auf die körperliche Liebe und die Gegenwart des geliebten Wesens zu verzichten.Larsen dagegen hat keine vorgefaßte Meinung von der Liebe, er läßt sich von ihr treiben. Indem er Hélène geheiratet hat, hat er alles in Kauf genommen: das alltägliche Einerlei, die Gewohnheit, seine eigenen Grenzen, die Krankheit, das Sterben, den Tod. Und nach der Beerdigung seiner Frau hat er sogar den Verrat in Kauf genommen. Er nimmt es hin, daß Hélène noch einen anderen liebte. Er nimmt sogar den Verlust seines Geschlechts hin. Dieser Mensch, der so grau, banal und schüchtern wirkt, ist recht eigentlich ein Abenteurer der Liebe. Er läßt es zu, daß sie in sein Leben eindringt, es verändert.Wer hat recht? Keiner der beiden: das macht das Wesen der Komödie aus. Beide: das macht das Wesen der Tragödie aus. Znorko und Larsen verkörpern die gegensätzlichen Spannungen, die wir in uns tragen. Sie haben ihren jeweiligen Standpunkt derart auf die Spitze getrieben, daß sie leiden, daß sie am Rande zur Neurose stehen. Keinem der beiden verschafft sein Exzeß Genugtuung. Zu Beginn des Stücks vergeht Znorko schier vor Einsamkeit. Larsen will zu Ende des Stücks, daß der Briefwechsel weitergeht. Seit Jahren habe ich hunderte von Briefen erhalten, in denen immer dieselbe Frage an mich gerichtet wird: Was geschieht nach den letzten Worten, die Znorko an Larsen richtet?Meine Antwort ist immer dieselbe geblieben:„Ich weiß es nicht, andernfalls hätte ich wohl das Stück weitergeschrieben.„Ich habe das Stück aus eben diesem Grund geschrieben, damit man sich diese Frage stellt und damit ich keine Antwort darauf geben brauche.“Was wird geschehen?Werden sich die beiden Männer unter der Maske Hélènes schreiben? Ohne sie? Werden sie sich sehen? Sich wiedersehen?Bis zu welchem Grad werden sie zulassen, daß Liebe zwischen ihnen besteht?Ich glaube, ein Theaterstück bereitet einem nicht nur Vergnügen, während es aufgeführt wird. Es ist nicht damit zu Ende, wenn die Aufführung zu Ende ist. Es soll den Zuschauer verstören, Fragen aufwerfen, viele Fragen, Fragen über das Stück und über sich selbst. Oft haben mir Menschen, die das Stück sahen, die Fortsetzung von Enigma erzählt. Das heißt eigentlich haben sie mir nichts über das Stück erzählt, sondern etwas über sich selbst. Sie vermittelten mir das, was diese seltsame Liebesgeschichte in Ihnen selbst auslöste, in ihnen anrührte. Darauf allein habe ich abgezielt.Malvern, England, den 12. Mai 2000Eric-Emmanuel Schmitt

Veröffentlichungen

  • Erschienen auf Bulgarisch bei Lege Artis
  • Erschienen auf Galicien bei Rinoceronte