Frédérick ou le Boulevard du Crime

Zusammenfassung

Frédérick schlägt ganz Paris in seinen Bann.Als populärer Schauspieler, extravagante Persönlichkeit, Spieler, Verführer, Revolutionär scheint er zu allem bereit außer zur Liebe.Die Leidenschaft? Er spielt sie oder kauft sie sich bereits vorgefertigt. Als er auf Bérénice trifft, eine junge, geheimnisvolle Frau, die nicht aus der Welt des Theaters kommt, wird er sich entscheiden müssen zwischen bloß geträumter oder gelebter Liebe, zwischen der Bühne oder dem Leben.

Anmerkungen

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Das Stück Frédérick ist wie ein Geschenk, das mir der Erfolg meiner vorhergehenden Stücke gemacht hat! Weil man mir vertraute, weil Jean-Paul Belmondo, ein Star unter den Stars, einmal ein Stück von mir spielen wollte, konnte ich mir erlauben, verschwenderisch mit Figuren, Bühnenbildern und Peripetien umzugehen.Zum ersten Mal schrieb ich nicht nur einfach ein Theaterstück, sondern schuf ein richtiges Spektakel.Ich hatte geglaubt, Frédérick würde nur in Paris aufgeführt werden. Ich konnte mir zu diesem Zeitpunkt nicht vorstellen, daß das Stück genau so vollkommen für das subventionierte Theater, das eigene Schauspieltruppen besitzt, geeignet wäre, noch konnte ich wissen, daß ich bereits drei Wochen nach der Premiere in Frankreich das Stück im Theater von Köln sehen würde, in der hervorragenden deutschen Fassung, die so poetisch ist und von Torsten Fischer geleitet wurde.Ich hatte ein populäres, direktes, offenes, klares Stück schreiben wollen, gezeichnet mit hellen und lebhaften Farben. Der Zweifel und die Melancholie haben sich ganz von alleine eingeschlichen und den wichtigen Platz, den sie in meinem Denken haben, auch im Stück eingenommen, es mit ihren eher düsteren Farben versehen. Auch wollte ich die Zuschauer mit meinem Stück zum Lachen bringen; doch ich habe mich dabei ertappt, daß ich sie zum Weinen bringe. Ich hatte das gar nicht beabsichtigt. Es hat sich herausgestellt, daß das Stück, das sich anfangs auf sehr grobe Art und Weise über das Melodram lustig macht, ja sogar soweit geht, daß es in der Herberge des Adrets zu einer Parodie wird, nichtsdestotrotz ein Melodram ist.Als ich mir darüber beim Schreiben bewußt wurde, behielt ich diese Verkehrung des Genres bei, die mich genüßlich hatte in die Falle tappen lassen: Indem ich das Gefühl aus dem Stück zu verbannen schien, stellte ich es wieder her. Das war hinterhältig, doch dafür um so wirkungsvoller. Frédérick überträgt die kindliche Liebe, die ich für das Theater empfinde, auf den Zuschauer.  Das Theater ist ein Ort, der uns wie die Kirche mit Hoffnung erfüllt, wenn wir sie betreten: alles ist möglich, raunt es im Saal, alles kann geschehen, die Toten werden wieder lebendig, die Wunden tun nicht weh, die Geschichten beginnen von Neuem, die Menschen altern nicht, ein Mann kann zu einer Frau werden, das Lächerliche wird gegeißelt und das Verbrechen vielleicht bestraft. Der Theatersaal, erleuchtet vom Aufblitzen unserer Träume, die wir in ihn hineinprojezieren, erfüllt von Ungeduld, erwärmt von unserer Vorfreude, der Theatersaal ist wie eine Seifenblase, die nicht platzen kann, wo das Leben nicht nur reproduziert wird, sondern, wo es erdacht wird, wo es korrigiert wird. Frédérick, der mit seiner griesgrämigen und lieblosen Mutter keine glückliche Kindheit verbracht hat, flüchtet sich ins Theater, um sein eigenes Leben zu leben, oder vielmehr seine eigenen Leben, denn er hat davon so viele wie er Rollen hat. Die Komödie gewährt ihm die Gunst, daß er während seiner Zeit auf Erden tausende von Menschen sein kann, während die Abermillionen gewöhnlicher Menschen auf ihre eine Rolle beschränkt sind, nicht aus ihrer Haut herauskönnen.Diese grundsätzliche Vielfalt, die ihm seine Kunst gewährt, birgt auch eine grundsätzliche Falschheit: Er weiß nie wirklich, wann er aufrichtig ist. Daran gewöhnt, nicht zu lügen, sondern in sich selbst jeden Abend künstlich verschiedene Emotionen zu erzeugen, hat er sich schon seit langem in dem Labyrinth seiner Virtuosität verlaufen, hat er sich selbst aus dem Auge verloren, hat er darüber sein eigens Leben vergessen. Bérénice bringt ihn in die Wirklichkeit zurück, denn dieses Mal, ihr gegenüber, geht es nicht mehr darum, Liebe nur vorzuspielen, sondern sich für sie zu engagieren. Frédérick, Experte in Sachen Emotionen, zweifelt daran, daß er für Gefühle begabt ist; verlangen sie doch im Gegensatz zu den starken, unmittelbaren, flüchtigen, bald wieder verlebten, bald wieder verblaßten Emotionen eine Verankerung in der Dauer, können für ein ganzes Leben lang bestimmend sein und bilden den Kern einer Persönlichkeit.Sich selbst mißtrauend, wird er aus Liebe auf die Liebe verzichten.Aus Achtung vor Bérénice verzichtet er darauf, ihr das aufzuzwingen, was er an sich für Substanzlosigkeit hält. Er wird sich nicht bewußt, daß es gerade seine Hellsichtigkeit ist, die ihm in diesem Moment Tiefe verleiht, daß es seine Durchsichtigkeit ist, die ihn undurchsichtig macht. Damit wollte ich beschreiben, was ich in den letzten Jahren von den Schauspielern gelernt hatte. Im Gegensatz zu der allgemein verbreiteten Vorstellung sind sie weder Narzißten noch Egozentriker.Sie sind keine Narzißten, weil Narziß sich so liebt und bewundert wie er ist, sein Spiegelbild ist ihm ein ausreichender Liebhaber. Die Schauspieler aber haben sich dafür entschieden, nicht sie selbst zu sein und sich um einer anderen Persönlichkeit willen lieben zu lassen, einer Persönlichkeit, die nicht die ihre ist. Sie sind auch keine Egozentriker; denn da der Egozentriker nur an sich selbst denkt, ist es ihm ein Bedürfnis, sich selbst zu kennen, eine innere Beziehung zu seinem Ego aufzubauen. Die Schauspieler aber zweifeln daran, daß sie eine eigene Persönlichkeit haben, sie stellen lieber eine geliehene Persönlichkeit zur Schau. Wenn sie sich bisweilen zu sehr um ihre Karriere sorgen und um ihr Erscheinungsbild, so ist das bloß Egozentrismus aus Mangel an Ego. Wenn sie ein Ego haben, so ist das allerhöchstens das Ego eines Kleiderständers, der sich immer darum sorgen würde die schönsten Anzüge zu tragen, unter denen er selbst verschwinden kann. Dieser Zweifel an sich selbst, dieses ständige Verlangen nach der Zustimmung der anderen, nach dem Applaus des Publikums, sind ein Wesensmerkmal des Schauspielers und rühren oftmals von einer ersten, frühen Wunde her. Die meisten Schauspieler, die ich traf, litten seit ihrer Kindheit gleichsam unter einem Mangel an Liebe.Der Mangel an Zuneigung und Anerkennung vergiftet das Leben dieser Schauspieler, es verleiht ihm aber auch eine Dynamik, treibt sie dazu, immer häufiger aufzutreten, um noch mehr an Erfolg abzubekommen, erschöpft sie in einem Lauf zum Ruhm, der niemals endet und nie befriedigt.Ich bin einerseits durch meinen fleißigen Besuch hinter den Kulissen zu diesem Stück inspiriert worden, anderseits habe ich mich vom Leben Frédérick Lemaîtres, des wirklichen Frédérick Lemaître, des ersten Volksschauspielers unserer Geschichte, inspirieren lassen, dieser mythischen Figur des Schauspielers im neunzehnten Jahrhundert.Somit war es mir auch möglich, die Schaffung des Volkstheaters am Boulevard du crime zu erzählen, eines Theaters, das sich, wie heutzutage das Kino, an alle Schichten der Bevölkerung wandte, das die Hoffnungen des Volkes verkörperte. Es war ein politisches Theater, geboren aus der Revolution, getragen von ihr, und sie tragend; ein Theater, das stets unterhalten, oft provozieren, manchmal auch zum Nachdenken anregen wollte, das aber vor allem eines nicht wollte: langweilen – wie das Theater heutzutage; noch wollte es die angeblich ungebildeten Massen mit dem nach oben gestreckten Zeigefinger erziehen – die Massen, die übrigens überhaupt nicht mehr ins Theater gehen, um sich für die Verachtung zu rächen, die ihnen unsere Theaterintellektuellen entgegenbringen. Frédérick ist ein Schauspieler. Er stellt daher einen ganz anderen Charakter dar als alle anderen Rollen, die ich geschrieben habe: er ist nicht nachdenklich, er kommentiert sich nicht selbst, er hinterfragt wenig, er handelt.Frédérick steht den Figuren nahe, die Alexandre Dumas’ für die Bühne schuf: er ist ein Held, und zwar der einzige, den ich jemals geschaffen habe. Als Aufschneider, wagemutiger und impulsiver Mensch ist die Improvisation sein Element und er wünscht sich nichts sehnlicher als von einem bon mot zum nächsten, von einer Peripetie zur nächsten zu gelangen. Er ist wie die Sonne, er spendet alle seine Strahlen, er existiert nur im Existieren, er verkörpert das hic et nunc in der reinsten Form.Nach all den dunklen Figuren, die ich bisher geschaffen hatte, die beseelt waren von Widerspruchsgeist, Widerspruch auf sich zogen, war ich froh über seine Ankunft, eine wahre Erfrischung für mich.Zermatt, Schweiz, den 25. Februar 2000 Eric-Emmanuel-Schmitt